Kommentar zur Sektionstagung Wirtschaftssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, „Entgrenzung von Markt und Staat? Wirtschaftssoziologische Untersuchungen zur Krise der Ordnungsbildung“ vom 26.-27. Oktober 2017 in Hamburg. Von Ferdinand Wenzlaff
Während der ökonomische Imperialismus soziales Verhalten in nicht-ökonomischen Sphären auch durch individuelle Nutzenmaximierung erklären will, insistiert die Wirtschaftssoziologie umgekehrt auf die soziale Einbettung von Interessen und Handeln. Ökonomie wird weitgehend mit Markt gleichgesetzt, womit der das Studium von Marktprozessen in sozial konstituierten Märkten zum zentralen Forschungsgegenstand wird. Ebenso haben komparative Studien zu Staatsmodellen Konjunktur (Varieties of Capitalism). Ein Großteil der Wirtschaftssoziologie bleibt also der Dichotomie von Markt und Staat verhaftet (ganz anders: Luhmans Wirtschaft der Gesellschaft), wie auch das Tagungsthema dokumentiert. Erstaunlicherweise spielen Geld und Kredit in der Wirtschaftssoziologie eine eher untergeordnete Rolle.
Aus einer sozio-ökonomischen Perspektive, in welcher Geld und Kredit (statt Markt) zur zentralen Institution bzw. Konstitivum kapitalistischer Wirtschaft wird, war der Vortrag von Philipp Degens zum Thema Komplementärwährungen von besonderem Interesse. Entsprechend thematisiere ich folgend nur diesen Vortrag, auch wenn die anderen Vorträge ebenfalls sehr inspirierende Gedanken lieferten. Ausgehend von der Theorie und Erfahrung, dass Geld den Vorteil des universell (d.h. zeitlich, örtlich und personell ungebundenen) Einsatzes birgt (Georg Simmel), stellt sich für Ökonomen und Soziologen gleichermaßen die Frage, warum Menschen sozusagen diesen „Rückschritt“ in der Evolution machen und ein eingeschränktes Medium nutzen.
Zu Erklärung der Motive der Benutzung von Komplementärwährungen greift Degens auf soziologische Geldtheorie zurück, welche die Simmel-Doktrin der Evolution zum homogenen Geld in Frage stellt. Zum Beispiel unterscheidet Polanyi „all purpose“ und „special purpose money“. Vivian Zelizer zeigt in zahlreichen Studien, dass Geld oft kontextualisiert bleibt und „earmarking“ erhält. Zum Beispiel wird geschenktes oder gefundenes Geld anders als durch Arbeit verdientes Geld ausgegeben. Selbstverständlich ist die Markierung („Ohrmarke“) nur temporär und verschwindet beim Übergang an eine andere Person. Komplementärwährungen kann man nun als Subkreisläufe mit „dauerhaft markierten“ Geldern begreifen. Das Geld ist dann markiert als „sozial“, „regional“ oder auch „ökologisch“ und konstituiert eigene Wirtschaftskreisläufe mit eben spezielleren Gesetzen als die einfache Vorstellung, Märkte würden nur aus Preissignalen bestehen. Komplementärwährungen könnte man dann als Unterstützung verstehen, „ökonomisch irrationale“ Normen zur Geltung zu bringen.
Die Diskussion zeigte sehr starke Vorbehalte, u. A. mit den Argumenten, dass dies kein (Simmel’sches) Geld und letztendlich nicht relevant sei. Solche Auffassungen verfehlen jedoch die Fragestellung, die ja auf der Evidenz beruht, dass Komplementärwährungen an Bedeutung gewinnen und Transaktionen umgesetzt werden. Ob über die soziologische Erklärung hinaus auch ökonomische Analysen gelingen, inwieweit sich das Wirtschaften tatsächlich flächendeckend ändern könnte, indem Kernvariablen wie Beschäftigung, Nachfrage oder Zinssatz beeinflusst werden, bleibt ein wichtiges Forschungsprogramm für Soziologen, Ökonomen oder Wirtschaftssoziologen. Damit käme die Wirtschaftssoziologie über die (mittlerweile beinahe triviale)Einsicht der soziale Einbettung von Märkten hinaus zur Genese von Ökonomie, wobei Märkte ja eher einen nachgelagerten Teilaspekt des Systems Ökonomie bilden. Uns jedenfalls werden Fragestellungen rund um Komplementärwährungen, Stabilität und ökonomisches Potenzial weiter beschäftigen.